Landrat Roland Bernhard, Böblingen

Landrat Roland Bernhard

"Den inklusiven Arbeitsmarkt durch öffentliche Vergabe mitgestalten"

Landkreis Böblingen I Baden-Württemberg

Der Landkreis Böblingen in Baden-Württemberg startete 2017 eine Initiative für eine inklusive Beschaffungsstrategie. Ins Leben gerufen hat sie Landrat Roland Bernhard. Fünf Jahre sind seitdem vergangen. Wir fragen Herrn Landrat Bernhard im Interview nach den Motiven der Initiative, welche Stolpersteine ihm begegnet sind und welche Erfolgsfaktoren er ausmachen konnte. Und natürlich wollen wir von ihm wissen, was aus seiner Sicht der MehrWert einer Vergabe an Inklusionsunternehmen ist.

Herr Landrat Bernhard, Sie haben die Initiative für eine inklusiven Beschaffungsstrategie im Landkreis Böblingen ins Leben gerufen. Wie kam es dazu?

Berufliche Inklusion ist ein gesamtgesellschaftliches Thema. Die inklusive Beschaffungsstrategie des Landkreises Böblingen ist aus sozialen und politischen Motiven gewachsen.

Der Landkreis hat bei der Förderung der beruflichen Inklusion eine Vorbildfunktion: Zusammen mit den Beteiligungsunternehmen sind wir einer der größten Arbeitgeber und Träger der Eingliederungshilfe für wesentlich behinderte Menschen. Außerdem haben wir als Träger der Sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentren (SBBZ) eine besondere Verantwortung.

Eine Rolle spielt auch die Entlastung der Sozialausgaben: Inklusionsfirmen bieten sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze für schwerbehinderte Menschen, die dem ersten Arbeitsmarkt zugeordnet sind und sich überwiegend aus Umsatzerträgen finanzieren.

Zu guter Letzt ist die Initiative aber auch Ausdruck unserer Haltung. Das christliche Menschenbild ist mir persönlich wichtig. Wir im Landkreis Böblingen leben die Vielfalt gemäß unserem Motto „Die Vielfalt macht‘s“.

Welche Formate und Ergebnisse sind im Rahmen der Initiative entstanden?

Im Mai 2017 wurde der Workshop „Arbeits- und Auftragspotenziale für Menschen mit wesentlicher Behinderung“ durchgeführt, mit einer Abschlussdokumentation und Handreichung an die Vergabestellen.

Ein Ergebnis des Workshops war, Inklusionsunternehmen künftig im Rahmen ihrer Geschäftsfelder und proaktiv in den Wettbewerb aufzunehmen. Leistungsbeschreibungen und Leistungsverzeichnisse werden seitdem unter Ausschöpfung rechtlich zulässiger sozialer Kriterien gestaltet.

Im März 2019 wurde die Beschaffungsstrategie von der zentralen Vergabestelle der Landkreisverwaltung und den Beteiligungsunternehmen vorgestellt. Dabei erfolgte eine Übersicht der rechtlichen Möglichkeiten in Vergabeverfahren.

Letztes Jahr im Februar wurde vom Dezernat für Jugend und Soziales ein Bericht herausgegeben: 🔗 Inklusive Beschaffungsstrategie (PDF). Adressaten sind Kommunen bzw. kommunale Vergabestellen. Im Bericht werden die Möglichkeiten in Vergabeverfahren für eine inklusive Beschaffungspraxis dargestellt.

Die Aktionen und Veröffentlichungen führten dazu, dass die Vergabestellen des Landkreises für die Möglichkeiten inklusiver Beschaffung sensibilisiert sind und vermehrt Aufträge an Inklusionsbetriebe vergeben wurden.

Können Sie auch von Stolpersteinen berichten, die Ihnen bei der Vergabe an Inklusionsunternehmen begegnet sind?

Manchmal haben Inklusionsunternehmen noch formale Schwierigkeiten bei der Teilnahme an öffentlichen Vergabeverfahren und der Einreichung von Angeboten. Im Vergaberecht können die Unternehmen Fehler machen, die zum Ausschluss führen könnten. Selbstverständlich können wir hier während einer Vergabe nicht einfach beide Augen zudrücken, aber grundsätzlich versuchen wir Hilfestellungen und Hinweise zu geben, wie die Vergabeverfahren funktionieren.

Weiter ist das Verhältnis von Preis und Qualität der Leistung oft ein anderes als bei großen Unternehmen, die keinen Wert auf Inklusion legen. Anders ausgedrückt: Inklusionsunternehmen sind oft preisintensiver. Das muss es uns aber wert sein. Deswegen sieht das Vergaberecht hier auch die Möglichkeit, Abschläge bei der Bewertung zu berücksichtigen.

Kommen wir von den Stolpersteinen zu den Erfolgsfaktoren bei der Vergabe öffentlicher Aufträge an Inklusionsunternehmen.

Wichtig sind der Kontakt und der Austausch mit regionalen Inklusionsbetrieben. Nur so können Sie Kenntnisse über detaillierte Leistungskataloge bei der Auswahl von Unternehmen haben. Es ist wichtig zu wissen, dass Inklusionsunternehmen oft mehr Leistungen anbieten als vermutet. Ein Erfolgsfaktor ist auch die Transparenz in Ausschreibungsunterlagen.

Können Sie uns ein Beispiel nennen, bei dem ein öffentlicher Auftrag an ein Inklusionsunternehmen vergeben wurde?

Ja, sogar mehrere. Die Digitalisierung von Bestandsakten des Landratsamtes Böblingen wurde an die Rudolf-Sophien-Stift gGmbH vergeben, Druckereileistungen an die GWW, die Prüfung ortsveränderlicher Geräte an die Femos gGmbH und Leda gGmbH sowie die Produktion von drei Clips für YouTube an 1a Zugang Beratungsgesellschaft mbH.

Das sind eine ganze Menge. Haben Sie bereits bei den Ausschreibungen Inklusionsunternehmen besonders berücksichtigt?

Ja. Zum Beispiel haben wir die Möglichkeit, das Angebot mit einem Abschlag von 15 % vom Wertungspreis im Wettbewerb zu berücksichtigen, wenn mindestens 30 % der Beschäftigten Menschen mit Behinderungen oder benachteiligte Personen sind. Damit haben Unternehmen, die Menschen mit Behinderung beschäftigen, einen Wettbewerbsvorteil. Eine weitere Möglichkeit ist der vorbehaltene Auftrag, der einen Wettbewerb nur zwischen anerkannten Werkstätten für behinderte Menschen und Blindenwerkstätten oder Sozialunternehmen (hierunter fallen auch Inklusionsbetriebe) ermöglicht.

Ausschlaggebend für den Zuschlag waren letzten Endes der Abschlag von 15 % vom Preis oder andere soziale Bewertungskriterien, wie etwa die Anzahl von Langzeitarbeitslosen und Anzahl der Ausbildungsplätze.

Wie gestaltete sich die Zusammenarbeit mit den Inklusionsunternehmen?

Die Zusammenarbeit läuft gut. Ich will zwei Beispiele nennen. Die Druckereiaufträge führt die GWW sehr professionell durch. Bei Fragen bezüglich der Farbauswahl oder technischen Problemen wird dem Landratsamt Hilfestellung gegeben. Der Videoclipdreh mit der Firma 1a Zugang war ein Erfolg: die Firma ist kompetent und erfahren.

Unsere Aufklärungsinitiative nennt sich „Vergabe. MehrWert inklusive“. Welchen MehrWert sehen Sie darin, Aufträge an Unternehmen zu vergeben, die inklusiv arbeiten bzw. eine große Anzahl an Menschen mit Schwerbehinderung beschäftigen?

Durch die Auftragsvergabe an Inklusionsunternehmen kann ein inklusiver Arbeitsmarkt gestaltet werden. Menschen mit geistiger, psychischer oder körperlicher Behinderung werden sozialversicherungspflichtig auf dem ersten Arbeitsmarkt über Auftragsvergaben an Integrationsunternehmen beschäftigt.

Nicht zu vernachlässigen ist, dass dadurch weniger Sozialleistungen zu zahlen sind. Denn WfbM finanzieren sich aus Leistungsentgelten des Landkreises und bieten den Menschen mit Behinderung keine sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätze. Integrationsunternehmen dagegen bieten praxisbewährte, nachhaltige Möglichkeiten der Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt und damit eine Wahlmöglichkeit zu den Werkstätten für Menschen mit Behinderung.

Als Landrat ist es mir wichtig, dass das Landratsamt eine Vorbildfunktion hat. Mit einem guten Beispiel können wir den Mehrwert der Öffentlichkeit zeigen.

Gibt es abschließend etwas, was Sie öffentlichen Auftraggeber*innen als Empfehlung mitgeben können?

Es ist Mehreres zu empfehlen: Erstens, Kontakte mit Inklusionsunternehmen knüpfen und über die Möglichkeiten bei der Teilnahme am Wettbewerb informieren; zweitens, Webseiten nutzen, um neue Inklusionsbetriebe zu finden und Leistungen zu recherchieren. Weiter hat sich bewährt, die rechtlichen Möglichkeiten und Auftrags- und Arbeitspotentiale für Menschen mit Behinderung auf der eigenen Homepage darzustellen.

Und was empfehlen Sie Inklusionsunternehmen?

Inklusionsunternehmen empfehle ich, detaillierte Leistungskataloge zu erstellen und sich auf Portalen und Webseiten einzutragen, um gefunden zu werden. Außerdem ist ein Tipp, auf Behörden zuzugehen und Informationen einzuholen über die Beschaffungsstrategie sowie rechtliche Möglichkeiten und Erleichterungen in Wettbewerbsverfahren.

Die Fragen stellte Magdalena Weinsziehr.